Ohne Selen funktioniert im Körper vieles nicht so, wie es sollte.
Seine Wirkung entfaltet Selen nicht als einzelnes Molekül, sondern über spezielle Eiweiße, die sogenannten Selenoproteine. Diese Gruppe von Proteinen enthält Selen in Form der Aminosäure Selenocystein. Damit übernehmen sie Schlüsselfunktionen in unserem Stoffwechsel – etwa beim Schutz vor oxidativem Stress, in der Schilddrüse oder im Immunsystem.
Unter den mehr als 25 bekannten Selenoproteinen ragt eines heraus: Selenoprotein P (SELENOP). Es ist nicht nur Transportprotein für Selen im Blut, sondern auch Marker für die Selenversorgung und selbst funktionell aktiv. In den letzten Jahren ist SELENOP in der Forschung stark in den Fokus gerückt – sowohl als Schlüssel zum Verständnis von Selenstoffwechsel als auch als möglicher Ansatzpunkt für Prävention und Therapie.
In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf die Studienlage: Was macht SELENOP so besonders? Welche Funktionen erfüllt es im Körper? Wie kann man es messen? Und welche Chancen, aber auch Risiken bietet eine gezielte Selenversorgung?
Biologische Rolle von Selen und Selenoprotein P
Damit Selen überhaupt wirken kann, muss es in die richtigen Organe und Zellen transportiert werden. Genau hier setzt Selenoprotein P an. Es wird in der Leber gebildet und ins Blut abgegeben, wo es als Transportvehikel dient. Organe mit hohem Bedarf – etwa Gehirn, Schilddrüse, Hoden oder Knochen – greifen gezielt auf SELENOP zurück.
Fehlt SELENOP oder ist es zu niedrig, kommt es in diesen Organen zu Selenmangel, selbst wenn im Blut noch Selen nachweisbar wäre. Das erklärt, warum SELENOP so zentral für die Gesundheit ist.
Die wichtigsten Funktionen im Überblick:
- Schilddrüse: Versorgung der Dejodinasen, die Schilddrüsenhormone aktivieren und deaktivieren.
- Gehirn: Schutz der Nervenzellen vor oxidativem Stress, wichtige Rolle für kognitive Funktionen.
- Fortpflanzung: Unterstützung der Spermatogenese und männlichen Fertilität.
- Knochen: Beteiligung am Knochenstoffwechsel und Schutz vor Abbauprozessen.
- Immunsystem: Stärkung antioxidativer Schutzsysteme in Immunzellen.
Tierexperimente zeigen drastische Effekte: Knockout-Mäuse ohne SELENOP entwickeln Bewegungsstörungen, neurologische Schäden und Unfruchtbarkeit – ein Hinweis, wie essenziell dieser Transportweg ist.
SELENOP als Biomarker – der Goldstandard
Für die Praxis ist SELENOP vor allem als Blutmarker interessant. Lange Zeit wurde der Selenstatus über die Aktivität der Glutathionperoxidase oder über Vollblut-Selen bestimmt. Beide Methoden sind nützlich, aber nicht immer zuverlässig.
Studien zeigen, dass SELENOP im Blut den Selenstatus am genauesten widerspiegelt. Es reagiert sensibel auf Supplementierungen, steigt bei Zufuhr an und erreicht ab einem bestimmten Level ein Plateau. Dieser „Sättigungspunkt“ zeigt, dass der Körper nun optimal versorgt ist.
Das ist für Therapeuten wie auch für interessierte Laien wichtig:
SELENOP erlaubt eine gute Einschätzung, ob die Ernährung reicht oder ob Supplemente nötig sind.
Es ist ein Marker, der sich auch für Interventionsstudien eignet, da Veränderungen schnell sichtbar werden.
Es kann helfen, eine Überversorgung zu vermeiden.
Gerade in Regionen mit niedrigen Selengehalten im Boden (z. B. große Teile Europas) kann die Messung von SELENOP sehr aufschlussreich sein.
Exkurs: Selenoprotein P-Antikörper - ein noch wenig bekanntes Puzzlestück
Neben der reinen Menge an Selen und SELENOP gibt es noch einen weiteren Faktor, der die Selenversorgung beeinflussen kann: Antikörper gegen Selenoprotein P. Diese sogenannten SELENOP-Antikörper sind Autoantikörper, die sich gegen das Transportprotein selbst richten – und dadurch seine Funktion blockieren können.
Das ist klinisch hochrelevant, denn selbst wenn im Blut ausreichend Selen und SELENOP vorhanden sind, kann die Verteilung in Organe gestört sein. In der Folge entsteht ein funktioneller Selenmangel, der sich vor allem auf antioxidative Enzyme wie die Glutathionperoxidase auswirkt.
Die Forschung zeigt bislang drei interessante Bereiche:
Autoimmunität: SELENOP-Antikörper treten gehäuft bei Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto-Thyreoiditis auf (ca. 6–7 % der Patienten). Auch nach schweren körperlichen Traumata wie Verbrennungen wurden sie beobachtet.
Krebsmedizin: Bei Brustkrebspatientinnen sind SELENOP-Antikörper mit einem höheren Risiko für Rückfälle und einer schlechteren Prognose verknüpft – insbesondere dann, wenn zusätzlich ein niedriger Selenstatus besteht.
Stoffwechsel: Experimentell eingesetzte, neutralisierende SELENOP-Antikörper konnten in Tiermodellen die Insulinsekretion verbessern und die Glukosetoleranz bei Typ-2-Diabetes positiv beeinflussen. Das eröffnet neue therapeutische Perspektiven.
Für die Praxis bedeutet das: Der Nachweis von SELENOP-Antikörpern ist noch kein Routinelabor, könnte aber künftig als zusätzlicher Biomarker für Autoimmunität, Selenstatus und Krankheitsprognosen dienen.
SELENOP-Antikörper sind zwar selten, aber klinisch relevant. Sie können eine Selenunterversorgung „maskieren“ und stehen im Schnittpunkt von Autoimmunität, Onkologie und Stoffwechselmedizin. Hier entsteht gerade ein spannendes neues Forschungsfeld, das künftig für Diagnostik und Therapie noch an Bedeutung gewinnen dürfte.
Klinische Effekte und Studienlage
Die Forschung der letzten Jahre hat eine Vielzahl von Assoziationen zwischen SELENOP und Gesundheit aufgedeckt. Einige davon sind sehr gut belegt, andere noch im Bereich von Hypothesen.
Herz-Kreislauf-System
Niedrige SELENOP-Spiegel im Blut gehen mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Herzinsuffizienz einher. In einer viel beachteten schwedischen Studie konnten ältere Patienten von einer kombinierten Gabe aus Selen und Coenzym Q10 profitieren: weniger kardiovaskuläre Ereignisse, bessere Lebensqualität und längere Überlebenszeit.
Das unterstreicht, wie wichtig Selen gerade im Bereich Herzgesundheit ist.
Gehirn und Nerven
Das Gehirn ist ein Hochleistungsorgan mit enormem Sauerstoffverbrauch – und damit anfällig für oxidativen Stress. SELENOP ist hier von zentraler Bedeutung: Es transportiert Selen durch die Blut-Hirn-Schranke und versorgt Nervenzellen mit antioxidativen Enzymen.
Studien deuten darauf hin, dass eine gute Selenversorgung das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer reduzieren kann. Auch die Regeneration nach Schlaganfällen könnte davon profitieren.
Reproduktion und Fruchtbarkeit
Vor allem bei Männern ist SELENOP für die Fruchtbarkeit entscheidend. Selen wird für die Entwicklung und Beweglichkeit von Spermien benötigt. Fehlt SELENOP, kommt es zu eingeschränkter Spermatogenese und Unfruchtbarkeit.
Entzündungen und Autoimmunerkrankungen
Niedrige SELENOP-Spiegel wurden bei Patienten mit rheumatoider Arthritis, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und Autoimmunthyreoiditis beobachtet. Hier ist die Datenlage noch nicht abschließend, aber vieles deutet darauf hin, dass eine ausreichende Versorgung den Verlauf günstig beeinflussen könnte.
Laborperspektive: Selen und Selenoprotein P in der Diagnostik
Labordaten zeigen deutlich, dass in Mitteleuropa eine Unterversorgung mit Selen häufig ist – bedingt durch die sehr selenarmen Böden. Selbst bei ausgewogener Ernährung bleibt das Risiko für einen Mangel bestehen. Für die Diagnostik reicht es daher nicht aus, nur das Gesamt-Selen im Serum zu bestimmen.
Besonders aussagekräftig ist die Kombination aus Selen im Vollblut und Selenoprotein P im Serum. Während das Vollblut-Selen einen Überblick über den Gesamtselenstatus liefert, gibt SELENOP Auskunft über die bioverfügbare Transport- und Speicherform. Fachlich entscheidend ist, dass über 50 % des im Serum vorkommenden Selens an SELENOP gebunden ist. Sinkt die Konzentration von SELENOP ab, können zentrale Organe wie Schilddrüse, Gehirn, Knochen oder Immunsystem trotz scheinbar normaler Serumwerte unterversorgt bleiben.
Ein Mangel an SELENOP bzw. funktionellem Selen kann sich in vielen Bereichen zeigen:
Schilddrüse: verminderte Dejodase-Aktivität mit Risiko für Hypothyreose und Hashimoto
Immunsystem: reduzierte Aktivität von NK-Zellen, höhere Infektanfälligkeit, mehr Autoimmunität
Herz-Kreislauf-System: Kardiomyopathien, erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall
Onkologie: Zusammenhang mit erhöhtem Tumorrisiko und schlechterer Prognose, z. B. bei Brustkrebs
Stoffwechsel: Assoziation mit Gestationsdiabetes und erhöhter Insulinresistenz
Noch komplexer wird die Situation, wenn SELENOP-Antikörper vorliegen. Diese können den Transportweg blockieren und so trotz normaler oder sogar hoher Serum-Selenwerte zu einem funktionellen Mangel führen. Genau deshalb gewinnt die erweiterte Diagnostik (Vollblut-Selen + SELENOP + ggf. SELENOP-Antikörper) zunehmend an Bedeutung – sie erlaubt eine differenzierte und funktionelle Beurteilung der Versorgungslage und liefert eine solide Grundlage für Prävention und Therapie.
Risiken einer Überversorgung
So wichtig Selen ist, so gilt auch hier: Die Dosis macht das Gift.
Während ein Mangel deutliche Risiken birgt, kann eine Überversorgung problematisch sein. Studien zeigen, dass zu hohe SELENOP-Spiegel mit Insulinresistenz, Typ-2-Diabetes und möglicherweise auch mit Krebs assoziiert sind.
Die Erklärung: SELENOP wirkt im Stoffwechsel nicht nur als Transporter, sondern beeinflusst auch Signalwege in der Leber und im Zuckerstoffwechsel. Ein Zuviel kann hier ins Negative kippen.
Das heißt konkret:
Supplementierungen mit Selen sollten nicht blind erfolgen.
Am besten nach einer Blutmessung gezielt dosieren.
Bei längerfristiger Einnahme auch an Kontrollen denken.
Praktische Empfehlungen
Für Anwender und Therapeuten lassen sich aus der Studienlage einige klare Empfehlungen ableiten:
Selenstatus bestimmen – idealerweise über SELENOP oder Vollblut-Selen.
Gezielt supplementieren, wenn ein Mangel vorliegt oder ein erhöhter Bedarf besteht (z. B. bei Hashimoto, Kinderwunsch, hoher oxidativer Belastung).
Dosierungen anpassen – meist reichen 50–200 µg pro Tag, je nach Ausgangswert.
Langfristige Hochdosen vermeiden – Überversorgung ist ebenso riskant wie Mangel.
Auf die Form achten – organische Verbindungen wie Selenmethionin oder natürliche Mischungen (z. B. aus Meeresfrüchten, Fisch, Supplementen) sind oft besser verträglich.
Fazit
Selen und sein Transportprotein SELENOP sind kleine, aber entscheidende Puzzlestücke in unserer Gesundheit. SELENOP sorgt dafür, dass Selen dort ankommt, wo es gebraucht wird – im Gehirn, in der Schilddrüse, in den Hoden oder im Immunsystem.
Die Forschung zeigt klar:
Mangel an SELENOP erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurologische Störungen, Unfruchtbarkeit und Entzündungen.
Optimale Spiegel schützen und stärken zentrale Funktionen des Körpers.
Überversorgung kann dagegen metabolische Risiken bergen.
Für die Praxis gilt: Testen, gezielt auffüllen, langfristig balancieren.
Wer das im Blick behält, kann mit Selen und SELENOP einen wichtigen Beitrag zu Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Prävention leisten.
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